Gedanken zu Erinnerungen meines Vaters an den 1. Weltkrieg und dessen Ende


Der erste Weltkrieg brachte einschneidende Veränderungen in Familien und Gesellschaft nachdem im Vorfeld das Deutsche Kaiserreich unter Kaiser Wilhelm II, so wie alle großen europäischen Staaten der massiven militärischen Aufrüstung der Ameen zunächst zu Lande und zu Wasser die allergrößte Bedeutung beigemessen hatten. Die europäische Landkarte glich einem Pulverfass als schon vor 1914 einige als ,,Stellvertreterkriege“ bezeichnete schwere militärische Auseinandersetzungen an der scheinbaren Ruhe rüttelten. Die sukzessive Auflösung des Osmanischen (Türkischen) Reiches auf europäischem Boden schon Ende des 19. Jahrhunderts und die Zusammenballung von bis zu 50 Völkerschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas, heute Ethnien genannt, in drei bzw. vier Groß-Mächten stellt sich heute wie ein großes brodelndes Gebilde dar, dass durch nur einen Fehl-tritt zur Explosion gebracht werden sollte. Die politisch unsichere habsburgische Österreich Ungarische, k.u.k.“- Monarchie nimmt hier eine Sonderrolle ein, da die Gebietserweiterungen der k.u.k.- Monarchie in das zerfallende Osmanische Reich hinein über Jahrzehnte nicht international abgesichert und damit schon an sich höchst gefährlich waren. So geschah es, dass der habsburgische Kronprinz Franz Ferdinand und seine Frau am 28. Juni 1914 im okkupierten Sarajevo, der Hauptstadt Bosnien – Herzegovinas von der Straße aus im offenen Pkw erschossen wurden.
Die Bündnisversicherungen der Nachbarn, insbesondere der deutschen Nachbarn, wurden eingehalten, der Krieg begann, da die weittragenden und am Ende verheerenden Entscheidungender Mächtigen als unumkehrbar erklärt wurden.
Ab dem 3. August 1914 rannte ein Groß-Teil der jungen Männer des Deutschen Reiches zu den Waffen, nachdem der Deutsche Kaiser den Krieg gegen Frankreich erklärt hatte: „Jetzt muss das Schwert entscheiden“ hatte er ausgerufen. Man dachte in Deutschland den Krieg in etwa vier Monaten zu seinen Gunsten entscheiden zu können. Die Soldaten riefen: „Weihnachten sind wir wieder zuhause!“ In den Städten war die Kriegsbegeisterung besonders groß, auf dem Lande hielt sie sich in Grenzen.
Die Sozialdemokratische Partei, die sich unter August Bebel (*22.02.1840 +13.08.1913) lange, auch mit Massendemonstrationen gegen die exzessive deutsche Rüstungspolitik gewehrt hatte und die bis kurz vor Kriegsbeginn den Kaiser und die Reichsregierung deswegen angegriffen und dann gemahnt hatte Österreich an dessen Verantwortung und dessen Friedenspflicht zu erinnern, schwenkte bei Kriegseintritt Deutschlands mit der Zustimmung zu Kriegskrediten im Wesentlichen auf Regierungslinie ein. Wilhelm II erklärte, er kenne von nun an keine Parteien mehr „er kenne nur noch Deutsche“.
Harleshausen war zu Beginn des Ersten Weltkrieges eine aufstrebende Gemeinde des Landes Kassel, dicht an der Grenze zur Stadt mit etwa zweitausend Einwohnern und mit der Stadt schon eng verwoben. Seit 1904 war Bürgermeister Wilhelm Führer im Amt. Durch seine Aktivitäten war in wenigen Jahren ein Gemeindezentrum mit Kirche und Schule entstanden. Die Gemeinde wuchs und expandierte. Jäh setzte der am 1. August 1914 ausbrechende Erste Weltkrieg der Entwicklung ein Ende. Die militärisch-politische Kriegsmaschinerie einer schon extrem militarisierten Gesellschaft setzte sich in Gang. An Weihnachten 1914 waren Männer, Väter und Söhne, eben nicht zu hause. Der Weltkrieg sollte sich zu der entscheidenden tragischen Katastrophe im Fortgang des 20. Jahrhunderts mit Millionen Kriegstoten und Verletzten ausweiten.


Mein Großvater Konrad Range war am 1. November 1875 als Sohn des Bauern Heinrich Range und seiner Ehefrau Antonie geborene Biede hier auf dem Hof im alten Zentrum von Harleshausen geboren worden. Als Hoferbe hatte Konrad um 1893/94 den Wehrdienst beim Kurhessischen Train- Batalion Nr: 11 in Kassel abgelegt. Er hatte „gedient“ wie es hieß.
Ob und wie stolz mein Großvater darüber gewesen war ist nicht auszumachen. Das „Dienen“ war in konservativer Tradition die weit über die monarchistischen Kreise hinausragten eine solch wichtige gesellschafliche „Leistung“, dass ohne dessen Ableistung, d.h. ohne Soldat gewesen zu sein, zum Beispiel wegen Krankheit , die Reputation des einzelnen Mannes in Dorf und Gemeinschaft schwer beeinträchtigt war. Die konservative Gesellschaft des militaristisch unruhigen Kaiserreiches konnte solche Umstände“ wenn überhaupt, nur mitleidig verzeihen, da die „Umstände“ nicht angesagt waren. Deswegen ist ein reaktionärer Charakter der Obrigkeit jener Zeit nicht abzusprechen .
Womöglich trat mein Großvater schon nach Ableistung des Wehrdienstes dem „Kriegerverein“ bei. Die Soldatenvereine „Kriegerverein“ genannt, waren nach Anfängen um das Jahr 1844, unmittelbar nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges 1870/71 gegründet worden. 1901 heiratete mein Großvater Konrad die 22-jährige Marie Louise Range aus Heckershausen, die Tochter seines Onkels, und übernahm den Hof. Wie von meinem Vater überliefert führten die beiden eine glückliche Ehe. Meinem Großvater war die Arbeit für den Hof, bisweilen bis an die Grenzen seiner Kraft, das höchste Gut, meine Großmutter verstand zu beruhigen und im festen Glauben an Gott liebevoll auszugleichen. Wichtiges Augenmerk war die Erhaltung von Hof und Familie durch Arbeit von früh bis spät, für Feste und Feiern war mein Großvater weniger zu haben, berichtete mein Vater. Dem Ehepaar Konrad und Marie Louise Range wurden sechs Kinder geschenkt.
Johannes, 1903, Karl 1906, Heinrich 1909, Emma 1911, Antonie 1912 und Aenne 1915.
Auf dem Hof arbeiteten zur Zeit um 1910 vier ständige Mitarbeiter*innen, wie man heute sagen würde. Zwei meist junge Mädchen, die oft gerade „aus der Schule gekommen“ waren, wie es hieß, die als Mägde in Haus und Garten zu Gange waren und zwei Männer als Knechte, davon meist ein Jungknecht, der gerade die achtjährige schulpflichtige Zeit beendet hatte, sowie ein älterer erfahrener Landarbeiter. Der 1918 mittelgroße Hof hatte etwa 22 ha Fläche. (Im Güterregister von 1928 heißt es spãter: Konrad Range, 20 ha, 4 Pferde, 9 Kühe mit Nachzucht und 15 Schweine.) Mit weiteren Lohn-Arbeitsflächen erforderte dieser Arbeitsumfang vollen Einsatz Aller.
Als der Krieg begann wurden nach Wehrprinzip und Gesetz alle wehrfähigen Männer eingezogen. Es gab Ausnahmen, die den unmittelbaren Familienumständen Rechnung trugen. Auf den Dörfern wurden hierzu die Bürgermeister befragt, bzw. richteten die Betroffenen ihre Bitte über ihn an die Standortverwaltung. Da mein Großvater (38) im Herbst 1914 auf dem Hof unabkömmlich war, da er die Familie, seine schwangere Frau, fünf Kinder, seine Mutter und weitere vier Arbeitskräfte zu versorgen hatte, schob man den zu erwarten Stellungsbefehl für ihn hinaus. Mein Vater war erst 11 Jahre alt und man wollte ihm nicht die ganze Last des Hofes übertragen. So gingen noch zwei Kriegsjahre ins Land. Viele Tote und großes Leid waren zu beklagen, der furchtbare Krieg hatte seinen Fortgang genommen.
Es war Frühherbst 1916, mein Großvater hatte zusammen mit meinem schon eifrig helfenden Vater (13) die Pferde abgeschirrt, sie gingen nach dem Abschirren zur Tränke, da erschien ein Bote mit der für alle bestürzenden Nachricht: Mein Großvater bekam den Stellungsbefehl.


Mein Vater brach noch im Pferdestall in Tränen aus und wollte sich nicht beruhigen. Er wusste was jetzt auf ihn zu kam : Mit 13 Jahrer wartete die ganze Last vor allem der Feldarbeit mit den Pferden auf ihn. Binnen weniger Tage musste mein Großvater einrücken. Mit Zügen wurden die Soldaten an die Fronten gebracht. Das Ziel hatte der Botenbrief schon genannt : Es war die Stadt Laon in Nordfrankreich.
Laon ist eine herrliche, mittelalterlich anmutende Stadt im Norden Frankreichs. Von weit her grüßt die 1000- jährige Kathedrale, hoch auf dem Berg stehend, ins hoch umliegende ebene Land. Auf einem natürlichen Kalksteinrücken, der unverhofft aus der Ebene aufragt wurde die Stadt und die alles überragende große Kirche am Ende des frühen Mittelalters errichtet. Nur dass Krieg und Kriegszeit, Schönheit und Anmut in den Hintergrund treten lässt, für die, die dort wohnen und für die Besatzer auf deren Weise, ist ausgemacht. Mit anderen Worten das deutsche Reichsheer hielt Laon und ein sich an der belgischen Grenze entlang ziehendes Gebiet seit Kriegsbeginn am 2.09.1914 bis Zum 13.10. 1918 besetzt. Es brauchte immer wieder neue Truppen um die Besetzung aufrecht zu erhalten. So hatte man u.a. auch meinen Großvater eingezogen. Im Übrigen wurde im November 1916 die Schlacht an der Somme beendet, ergebnislos wie man sagt. Die Somme-Schlacht, die schlimmste Schlacht des 1. Weltkriegs etwa 100 km südwestlich von Laon geführt, hatte fürchterliches Grauen und den Tod von etwa 1 Million Soldaten gebracht.
Im Angesicht von Grauen und Tod auf den Kriegsfelderm musste die Arbeit auf dem Hof in Harleshausen weiter gehen. Wenige Tage nach dem Einrücken meines Großvaters kam der 75. jährige Großvater meines Vaters aus Heckershausen nach Harleshausen um erste organisatorische Hilfestellung zur Weiterführung des Betriebes zu leisten. Anfang 1917 wurde dem Hof dann ein französischer Kriegsgefangener zugeteilt um meinen damals 13-jährigen Vater zu unterstützen. Das Verhältnis des noch relativ jungen französischen Soldaten zur Familie muss gut gewesen sein, denn mein Vater lernte bei ihm eine Reihe französischer Worte und Sätze.
Der erste Winter 1916/17 ohne das „Haupt“ von Hof und Familie wurde hart. Durch den enormen geldlichen und organisatorischen Aufwand den die Reichsregierung in die Kriegskasse steckte war die Zivilbevölkerung extrem und sträflich vernachlässigt worden. Auf dem Ernährungssektor herrschten durch die Krautfäule (Phytophtora) bei Kartoffeln und die britische Seeblockade Mangelzustände, so dass man vom „Steckrübenwinter“ sprach. Von staatlicher Seite wurden Steckrüben, auch Kohlrüben genannt, an die Bevölkerung verteilt. Steckrüben die eigentlich mehr als Tier-Futter genutzt wurden, sollten die Ernährung der Bevölkerung sichern. Welche Armut welches Leid sich hinter sonst nüchternen Darstellungen verbirgt ist unbeschreiblich.
Unter immer größer werdender Not und unter nicht enden wollenden fürchterlichen Kriegsereignissen in den Schützengräben nahm das Jahr 1917 mit der Kriegserklärung der Vereinigten Staaten am 6. April 1917 seinen Fortgang. Die Revolution in Russland Anfang November 17 brachte die Kapitulation des nun ehemaligen Zarenreiches. Als der schlimme Winter 1917/18 an der Westfront und der Einsatz der amerikanischen Truppen im Westen, die die ermüdeten britischen Truppen ersetzten, den Krieg weiter zugunsten der Alliierten beeinflussten, wendete sich das Blatt endgültig gegen das deutsche Kaiserreich. Es war irgendwann klar, dass der Krieg, der im August 1914 eigentlich „nur wenige Wochen“ dauernd sollte, nach vier Jahren zur Entscheidung drängte.


Hinzu kam, dass im Sommer und Frühherbst 1918 plôtzlich eine Krankheit auftrat, die alles, was man bisher nach den als vergangen geglaubten Zeiten der Pest von vor Jahrhunderten wusste, in den Schatten stellte, die Pandemie der Spanischen Grippe auch Influenza genannt. Heute weiß man, daß die hochansteckende Grippe A1/H1N1 aus USA mit Soldaten nach Europa kam und dann weltweit eine halbe Milliarde Menschen erkranken ließ ,von denen 50 Millionen starben. Der furchtbare Krieg verlor seine Kraft , da Massen von Soldaten erkrankten – auf beiden Seiten.
„Spanisch“ hieß die Grippe im Übrigen nur, da alle kriegsführenden Parteien Nachrichtensperre verhängt hatten , wodurch die Worte Krankheit oder gar Grippe nicht vorkamen . Spanien war dagegen im 1 Weltkrieg neutral und meldete wahrheitsgemäß seine Grippefälle, was dann auch weiter publiziert wurde.
Das Grippe-Virus erreichte im Frühherbst 1918 auch Harleshausen und unseren Hof. Alle Kinder, mein Vater und seine Geschwister erkrankten, eine Schwester behielt eine Lähmug zeitlebens zurück , mein Vater, der damals 15 war, berichtete von Hitzewallungen, meine Großmutter Marie erkrankte sehr schwer und die erhoffte Erholung wollte sich nicht recht einstellen.
Nun war am 9 November 1918 der Krieg mit der Niederlage des Deutschen Kaiser-Reiches zu Ende gegangen. Der von Deutschen besetzte Teil Nordfrankreichs mit der Stadt Laon, der Stationierungsort meines Großvaters, war bereits am 13.0ktober 1918 aufgegeben worden. Im Wald bei Compiegne, nördlich von Paris war am 11.1.1918 die deutsche Kapitulation unterschrieben worden. Paul von Hindenburg, der Generalfeldmarschall, nahm wenige Tage nach jenem 9. November die Auflösung der Truppen auf der Rasenallee in Höhe Jägerhaus auf dem Gebiet der Gemeinde Harleshausen ab. So spielte Weltpolitik und die förmliche Demonstration der Niederlage im eigenen Dorf. Die Forderung des Versailler Vertrages nach dem für Deutschland verlorenen Krieg musste erfüllt werden, fast alle Soldaten wurden entwaffnet und entlassen.

Mein Großvater war heimgekehrt.
Mein Vater war als 15jāhriger von der Niederlage so berührt, so enttäuscht und so unendlich traurig, daß ihn die Tatsache des verlorenen Krieges und die Augenblicke der Gewissheit nicht losließen. Dem unrühmlichen Ende förmlich ins Auge sehen zu müssen, auch im Sinne irregeführt worden zu sein, begleitete ihn das ganze Leben lang, hatte er doch noch als Kind und Jugendlicher nie an eine mögliche Niederlage geglaubt und bis zuletzt gehofft.
Der erhoffte Sieg Deutschlands hätte auch die von meinem Großvater gezeichnete Kriegsanleihe mit einem höheren Betrag zurück gebracht. So kamen nichts als Schulden. Mein Großvater musste sieben Morgen Land verkaufen. Meine Großmutter hätte sich nach der schweren Grippe so gern wieder erholen wollen, die Krankheit hatte aber so an ihr gezehrt und sie so stark geschwächt, dass sie im März 1920 mit fast 41 Jahren starb.
Nun blieb die siebenköpfige Familie mit sechs, teils noch kleinen Kindern zurück. Nach Krieg, Krankheit und Tod war die Situation für die Familie bitter. Das Patenkind meiner Großeltern Marie, Mieke genannt, aus Heckershausen war 22 Jahre alt als sie hier im Haushalt für ihre Godel einsprang und für zwei Jahre tatkräftig und freudig mithalf den Hof, alle Umstände des Haushalts und seine Existenz zu erhalten. Mein Großvater stellte dann 1923 Frau Paulus als Haushälterin ein, die, zusammen mit ihrer kleinen gehörlosen Tochter in den 1920er Jahren für einige Jahre für Haushalt und Garten zuständig war. Weiterhin half die beste Freundin meiner Großmutter, die Heckershäuserin Frau Elise Bork, geborene Pfläging, die in Harleshausen verheiratet war in Hof und Haushalt mit großer Tatkraft mit. Sie hatte es ihrer besten Freundin noch auf dem Sterbebett versichert. Elise Bork, Stammutter der angesehenen Harleshäuser Familie Bork war neben der Arbeit für ihre eigene Familie ihr ganzes Leben unsrem Hof helfend verbunden; sie starb im Jahre 1974 im Alter von 95 Jahren.


Schon vor und zu Kriegszeiten hatte sich, was Geldwirtschaft und Währung betrifft eine Inflationäre Entwicklung eingestellt, das ist auch in unserem erhaltenen „Arbeitsleutebuch“ das 1898 einsetzt, deutlich zu sehen. Nach dem Krieg jedoch nimmt die Inflation Fahrt auf. Mein Großvater konnte die Lage nicht recht einschätzen und sich nicht vorstellen dass das gesparte Geld, der kleine Rest vom Landverkauf, sich in nichts auflösen könnte – bis mein Vater ihm ganz kurz vor der Geld-Hybris noch verständlich machen konnte einmal Schwere Eggen und eine dreiteilige Walze zu kaufen die mein Vater dann auch anschafte – dann verfiel das Geld. Die beiden Geräte blieben noch bis in meine Jugendzeit auf dem Hof.

Konrad Range und Ehefrau Antonie geborene Biede

Bis dahin ein Bericht über Kriegs und Nachkriegsgeschichte des Ersten Weltkrieges auf und um unseren Hof in Harleshausen.

H.R.

Bericht von Heiner Range